Cristina Riscalla Madi

Wir leben in einer Kultur, die das Glück und die Jugend verehrt und durch die Abwesenheit von Leid, Krankheit und Schmerz charakterisiert ist - das Älterwerden wird als Lebensphase, die von Verlust und Entbehrung gekennzeichnet ist, angesehen. Eine solche Sichtweise ignoriert aber die positiven Aspekte des Alters, von der Erschließung des Potenzials eines tieferen Lebensverständnisses über die Erfahrung von Geschichten und Werten innerhalb der eigenen Biografie bis hin zu einem Spektrum vergangener und gegenwärtiger Gefühle und Emotionen. Denn positive und negative Erfahrungen sowie gute und schlechte Erinnerungen sind wichtig, um die Welt in ihrer Vielfalt zu begreifen, aber auch um sich aktiv einzubringen und eine bejahende Sicht auf die äußeren Einflüssen zu entwickeln, die auf ein jedes Leben einwirken.

Denn die Gesundheit wird auch vom persönlichen Willen, gut zu leben, und vom individuellen Wohlbefinden beeinflusst. Außerdem vom Festhalten an Wünsche und Träume und der Erkenntnis, dass nicht nur die Gesundheit ein längeres Leben bedingt, sondern vor allem das Versprechen, ein besseres Leben mit mehr Lebensqualität führen zu können als bisher.

Das Älter­ werden ist keine Strafe für die Art und Weise, wie man sein Leben gelebt hat, sondern Teil eines jeden Lebensweges.

Ältere sollten als aktive Gestalter ihrer Lebensrealität anerkannt und ihre Individualität, ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte respektiert werden.

Die urbane Gesellschaft privilegiert Arbeit und Produktion und hat dabei besondere Formen von gesellschaftlichen Beziehungen hervorgebracht, die das Sozialverhalten prägen.

Altern zu können bedeutet auch zu verstehen und einzuschätzen, was am besten für einen ist. Dies stützt sich auf Erfahrungen, Wünsche und den Lebensmut, der in jedem Individuum seit der Kindheit angelegt ist. Die mit dem Alter verbundenen Vorstellungen von Bedürfnissen und Verlust hin zur Hervorhebung des Potenzials und der Möglichkeiten eines aktiven Lebens zu verändern bedeutet, sich über die pessimistische Einstellung gegenüber dem letzten Lebensabschnitt hinwegzusetzen. Das Verständnis von Leben als kontinuierlichem Strom schließt zwar Hindernisse und Widerstände ein, aber die Entwicklung von eigenen Bedürfnissen und Stärken sowie von Courage und Bedeutung bereichern das Leben, sind sinnstiftend und führen einem so die Schönheit eines jeden Lebensalters vor Augen.

Hiermit geht auch die Erfahrung einher, dass man durch Klugheit und Mut seine psychischen wie physischen Kämpfe gewinnen kann. Im hohen Alter sollte man sich triumphierend zum Leben bekennen und sich bewusst machen, welche Talente und Fähigkeiten man besitzt und was man der nächsten Generation an Selbstachtung, Würde und Bewusstsein weiter zu geben hat. Das Alter ist ein Moment im Leben, in dem wir uns gegen Vorurteile wehren sollten und mit der Kühnheit derjenigen, die bereits ein Leben lang gekämpft haben, nach Handlungsfreiheit streben sollten.

In: Pawlik, Alice (Hg.): Grey is the new Pink. Momentaufnahmen des Alters. Ausstellungskatalog Weltkulturen Museum Frankfurt 2018